Schallplattenpreis 2006
Jury:
Oswald Beaujean, München; Lothar Brandt, Stuttgart; Dietmar Holland, München; Thomas Voigt, Köln; Vorsitz: Attila Csampai
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Kategorie A: Wiederveröffentlichungen:
Gustav Mahler: Symphonien 1-10, Das Lied von der Erde
Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester (des WDR)
Leitung: Gary Bertini (1927-2005)
Aufnahmen/incisioni: Köln, Tokyo 1984-1991
EMI 3 40238 2 (11 CDs)
Die Mahler-Gemeinde verdankt dem im März 2005 verstorbenen Dirigenten Gary Bertini unter anderem die bislang einzige überzeugende Schallplattenaufnahme der von C.M. von Weber unvollendet hinterlassenen und von Gustav Mahler fertig gestellten Oper "Die drei Pintos". Daneben hinterliessen vor allem die Live-Aufführungen des Mahler-Dirigenten Bertini in ihrer mitreissenden Emotionalität einen bleibenden Eindruck. Die in der prämierten Edition mit aufgenommenen vier Konzertmitschnitte aus Japan aus dem Jahr 1991 dokumentieren Bertinis Frische und Präzision nachdrücklich.
Doch auch die zwischen 1984 und 1991 beim WDR in Köln produzierten Studioaufnahmen zeigen in ihrer strukturellen Klarheit, in ihrer präzisen Balance von Dynamik und Tempowahl, sowie in der Offenlegung formaler Zusammenhänge einen Komponisten, der klar als "Zeitgenosse der Zukunft" zutage tritt. Obwohl der Mahler-Zyklus des 1928 in der Sowjetunion geborenen und bald nach Israel ausgewanderten Bertini spürbar nicht auf emotionale Extreme angelegt ist, belegen die Aufnahme doch in altersloser Klarheit das besondere Engagement und die "Herzensaffinität" Bertinis für Mahlers Musik.
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Kategorie B: Neuproduktionen
Gustav Mahler: Symphonie Nr.2 c-moll („Auferstehungssymphonie“)
Sopran, Christine Schäfer; Mezzosopran, Michelle DeYoung;
Wiener Singverein, Wiener Philharmoniker,
Leitung: Pierre Boulez
Aufnahme:Wien, Musikverein, Grosser Saal, Mai-Juni 2005
Deutsche Grammophon 00289 477 6004
Ein bedeutsames Mahler-Projekt nähert sich seinem Ende: Zwölf Jahre nach dem Start seines (zweiten) Mahler-Zyklus ist der 81jährige Pierre Boulez bei der vorletzten Etappe angekommen: Und wie schon in den letzten beiden Folgen hat er nun auch in der transzendierenden „Auferstehungs“-Symphonie seine intellektuell-analytische Lesart des metaphysischen Kolosses mit dem „authentischen“ Mahler-Ton der Wiener Philharmoniker kombiniert, so dass auch hier wieder (wie schon in der ähnlich grandiosen Dritten) die Sinnlichkeit, Leidenschaft und Ichbezogenheit dieser Musik sehr schön die Balance halten mit der glasklaren Objektivität, dem Röntgenblick und dem trockenen Esprit des französischen Dirigenten. Boulez’ faszinierender struktureller „Durchblick“ läßt sogar die Wucherungen und Pathetismen Mahlers in den Ecksätzen als stringente Notwendigkeiten erscheinen. Er bringt endlich Licht und Linie in das metaphysische Dunkel dieses eschatologischen Dramas und reduziert so auch das apokalyptische Bedrohungspotential: Das göttliche Strafgericht ist also weit weniger schlimm als uns eingetrichtert wurde. Folgerichtig legt Boulez mit seiner eminenten Klangdramaturgie auch den Weg des Finales frei – von der anfänglichen Schreckensfanfare bis zum völlig entschwindenden, immateriellen Schluss und verzichtet hier auf jegliche, nur dröhnende Apotheose: Sowohl die exzeptionelle Leistung der Wiener Philharmoniker als auch die intonationssichere Präsenz des Wiener Singvereins sorgen für ein schier überwältigendes Klangspektrum, das sich am Ende ganz ohne religiöse Implikationen als ein Akt klangsinnlicher Befreiung von jeglicher Erdenschwere begibt.
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Kategorie C: Sonderpreis
Für die erste Video-Gesamteinspielung der Sinfonien Mahlers unter Leonard Bernstein in den Jahren 1971-1976 bei Unitel Gustav Mahler: Die Sinfonien. Das Lied von der Erde (+ Proben: Sinfonien Nr. 5 und 9, Das Lied von der Erde)
Wiener Sängerknaben, Wiener Singverein, Wiener Staatsopernchor, Edinburgh Festival Chorus
Wiener Philharmoniker, London Symphony Orchestra, Israel Philharmonic Orchestra
Dirigent:Leonard Bernstein
TV-Regie: Humphrey Burton, Tony Palmer (Unitel 1971-76)
Deutsche Grammophon 9 DVD 0040 073 4088
Nicht nur als weltweit erste Gesamtaufnahme aller Mahler-Sinfonien auf DVD ist diese Ausgabe von singulärem Wert. Vor allem vervollständigt sie das Bild des großen Mahler-Dirigenten Leonard Bernstein. Sie dokumentiert seine Arbeit zwischen dem frühen Zyklus aus New York (CBS 1960-68) und der späteren Gesamtaufnahme für die DG (1985-90) und zeigt über weite Strecken, dass man Bernstein auch SEHEN muss, um seine Bedeutung in der Geschichte der Mahler-Interpretation vollständig ermessen zu können. Bei kaum einem anderen großen Dirigenten erscheint das sichtbare Handwerk des Dirigierens und der visuelle Teil des Musizierens so wichtig für den Gesamteindruck der Interpretation. Trotz teilweise unbefriedigender Kameraführung (störend oft werden die Instrumente, die gerade „dran“ sind, in Nahaufnahmen eingeblendet) zeigen die Filme von Humphrey Burton und Tony Palmer, warum Bernstein zu den leidenschaftlichsten und intensivsten Mahler-Interpreten zählte. Besonders eindringlich sind die Proben-Mitschnitte (Sinfonien Nr. 5 und 9, Lied von der Erde): Ein Besessener auf der ständigen Suche nach dem emotionalen Druckpunkt der Musik. Da die DVD-Edition zudem größtenteils Aufnahmen enthält, die es vorher nicht auf LP oder CD gab, kann sie auch losgelöst von der „Optik“ einen Sonderrang in der Mahler-Diskographie beanspruchen.
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