Internationaler Schallplattenpreis

Schallplattenpreis 2009


Jury:
Lothar Brandt, Stuttgart, Dr. Andreas Grabner, Nürnberg, Thomas Schulz, München, Götz Thieme, Stuttgart
Vorsitz: Attila Csampai, München

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Kategorie A: Wiederveröffentlichungen:

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6 a-moll
London Philharmonic Orchestra
Leitung: Klaus Tennstedt

Aufnahme: London, 22. August 1983, Royal Albert Hall (Live-Mitschnitt BBC Radio 3) Erstveröffentlichung

LPO – 0038/ Vertrieb: Naxos (2 CDs , 83’53)

Klaus Tennstedts Londoner Konzertaufführung der Sechsten wurde am 22 August 1983 live in  BBC Radio 3 gesendet und verschwand danach im Archiv. Jetzt hat ihn das London Philharmonic Orchestra wieder ausgegraben und auf seinem neugegründeten Eigenlabel LPO veröffentlicht – und die späte CD-Premiere zählt auf alle Fälle zu den eindrucksvollsten Mahler-Dokumenten des 1998 verstorbenen deutschen Dirigenten: Wer die nur vier Monate zuvor entstandene „offizielle“ EMI-Studioproduktion derselben Symphonie kennt, die nur drei Minuten mehr beansprucht, aber deutlich elegischer wirkt, wird überrascht  sein von der unglaublichen Suggestivität und der glühenden Ausdruckskraft des Live-Mitschnitts, der erneut die ganz besondere persönliche Aura dieses ungewöhnlichen Musikers unterstreicht: Als Interpret folgt Tennstedt strikt dem hermeneutischen Ansatz Alma Mahlers, die diese Symphonie als „sein allerpersönlichstes und ein prophetisches obendrein“ deklariert hatte, also als genialische Vision seines eigenen unglücklichen Schicksals, und so setzt Tennstedt alles daran, dieses innere Programm einer tragischen Heldensymphonie so drastisch und so leidenschaftlich wie nur möglich und in seiner ganzen negativen Monumentalität vor dem Hörer auszubreiten, und ihn so emotional zu erschüttern. Der programmatisch-erzählerische Grundzug seines Mahler-Verständnisses ist dabei von einer grossen inneren Lauterkeit, tiefem Ernst und echtem Mitgefühl, getragen, so dass dieser schmerzliche Alptraum (insbesondere im Finale) niemals in die Gefahrenzone des Theatralischen oder Effektvollen abdriftet: Tennstedt ist kein Ästhet des Grauens und auch kein wilder Dramatiker, sondern ein Schmerzensmann und Wahrheitssucher, der dem Schicksal, dem Tragischen geradewegs ins Auge blickt – und so in der Sechsten zu eher unbequemen, fast trostlosen Ergebnissen kommt, die aber die inneren Dimensionen dieses Meisterwerks tiefer, bizarrer ausleuchten, als viele andere auf Wirkung getrimmte Aufführungen.

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Kategorie B: Neuproduktionen

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9
Bamberger Symphoniker (Bayerische Staatsphilharmonie)
Leitung: Jonathan Nott
 
Aufnahme: Bamberg, Konzerthalle, September 2008 (in Koproduktion mit BR-Klassik)

Tudor 7162/ Vertrieb: Naxos  (2 Hybrid-SACDs, 83’30)
 
Pünktlich zum 100. Geburtstag von Mahlers 9.Symphonie haben Jonathan Nott und seine Bamberger Symphoniker der umfangreichen Diskographie eine sehr ausdrucksstarke und bewegende Interpretation hinzugefügt, die die überbordernde Komplexität und den janusköpfigen Charakter dieses enigmatischen Werks mit beschwörender Intensität und einem guten Gespür für die altösterreichischen Tonfälle ausleuchtet und dabei auch die unerhörte „Modernität“ des Mahlerschen  Spätstils als Weiterentwicklung seines Kernthemas vom ewigen Kreislauf des Lebens und von der Allmacht der Liebe deutet. Auf der Basis eher bedächtiger Tempi in den Weltschmerz-erfüllten Ecksätzen gelingt Nott mit seinen hochmotivierten Bamberger Symphonikern ein musikalischer Appell von bezwingender innerer Logik, der bei aller überbordenden Komplexität und aller verwirrenden Vielstimmigkeit stets verständlich bleibt und niemals seinen humanen Seelenmotor - nämlich Mahlers Menschenliebe – verleugnet. So wirken hier auch die „Todesahnungen“ und der grosse Abschiedsschmerz des Adagio-Finales durchglüht von Mahlers grossem Liebesappell, und so ganz ins Welthaft-Objektive gehoben, wo sie letztlich Zuversicht und einen ruhenden Hoffnungsschimmer verströmen, die Schreckensvisionen des vorangehenden Burleske korrigierend. Die in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk entstandene exzellente Mehrkanalproduktion unterstützt auch in ihrer beeindruckenden akustischen Wucht und Transparenz den emphatischen Ansatz des Dirigenten.  

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Kategorie C: Sonderpreis   
 
Gustav Mahler. Symphonie Nr.4 G-dur / arr. von Erwin Stein
(+ A. Schönberg: Sechs Orchesterlieder op.8 / arr. von H. Eisler und E. Stein)
Sopran, Laure Delcampe

Aufnahme: Brüssel, 21.-24. Juli 2008

Fuga libera FUG 548  (CD, 77’22)
 
Eine interessante Alternative zu Mahlers Originalpartitur der Vierten bietet das 1993 in Brüssel gegründete Kammer-Ensemble Oxalys, das 2008 ein postumes Arrangement der Sinfonie für 12 Kammermusiker in lupenreiner Intonation und mit viel Wiener Charme und Biss eingespielt hat: Die Bearbeitung wurde 1921 von Erwin Stein,  dem damaligen Leiter des von Arnold Schönberg ins Leben gerufenen „Vereins für musikalische Privataufführungen“ angefertigt, um diese damals von großen Orchestern kaum gespielte „moderne“ Musik wenigstens einem kleineren Kreis von Fachleuten und Enthusiasten zugänglich zu machen. Der Reiz der mit Harmonium plus Klavier und Schlagzeug operierenden Salon-Version liegt in ihrer kristallinen Klarheit und kontrapunktischen Transparenz, die etwa auch die massiven ironischen Untertöne Mahlers  wesentlich deutlicher hervortreten lässt als in so vielen stromlinienförmigen Einspielungen in Originalbesetzung. Gerade Kenner der Materie werden in der überaus prägnanten und  kakanisch-süffisanten Interpretation der jungen belgischen Truppe und dem frischen Sopran von Laure Delcampe einige Überraschungen erleben – im Bezug auf Mahlers raffinierte Polyphonie, die jetzt wie auf einem Präsentierteller konturenreich heraustritt. Auf der anderen Seite kann ein lediglich auf fünf Solisten reduzierter Streichersatz die ätherische Flimmern und das schwebende „Himmelsblau“ des Originals nur schwerlich wiedergeben – hier befinden wir uns unweigerlich in einem geschlossenen Wiener Salon, mit festem Dach darüber, und können von dem offenen „Himmel“ Mahlers nur träumen.

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