Internationaler Schallplattenpreis

Schallplattenpreis 2010


Jury:
Lothar Brandt, Stuttgart, Dietmar Holland, München, Christine Lemke-Matwey, Berlin,Thomas Schulz, München
Presidente:  Attila Csampai, München

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Kategorie A: Wiederveröffentlichungen:

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 2 c-moll („Auferstehungssymphonie“)
Leitung: Klaus Tennstedt
Sopran, Yvonne Kenny ; Mezzosopran, Jard van Nes
London Philharmonic Orchestra & Choir

Aufnahme:London, 20. Februar 1989, Royal Festival Hall (Live-Mitschnitt) Erstveröffentlichung
 
LPO – 0044/ Vertrieb: Naxos (2 CDs , 93’00)

Wie schon in seinem im letzten Jahr mit einem Toblacher Komponierhäuschen ausgezeichneten phänomenalen Live-Mitschnitt der Sechsten Mahlers aus dem Jahr 1983 (LPO –0033) erweist sich Klaus Tennstedt auch in der 1989 aufgeführten Zweiten mit dem London Philharmonic als Magier des erfüllten Augenblicks, als genialischer Live-Musiker, der vor allem in seinen letzten, von schwerer Krankheit gezeichneten Lebensjahren in unglaublich suggestiver Weise das ganze tragische Potenzial der ihm anvertrauten Werke freizusetzen verstand. So auch hier: Selten klangen Mahlers Jenseitsvisionen so „unerhört“, so tief innerlich durchlebt, so beschwörend-leidenschaftlich, so überwältigend wie in diesem späten Londoner Konzertmitschnitt des 1998 verstorbenen Mahler-Fanatikers Tennstedt. Vor allem in den beiden monumentalen Ecksätzen der Zweiten entfacht er eine emotionale Glut, ein echtes Leidenspathos, dem man sich nicht entziehen kann, das einen fesselt und erschüttert und die wirklichen seelischen und metaphysischen Dimensionen dieser Erlösungssymphonie einmal spüren lässt: Das ist ein zutiefst romantischer, hermeneutischer Ansatz, und ein unerschütterliches Plädoyer für Mahlers klingende Weltanschauung, die untrennbar verquickt ist mit seinem eigenen Schicksal. Tennstedts Leidenschaft, seine physisch-dramatische Wucht, sein fantastisches Timing, wirken nie theatralisch oder effektvoll: Er ist ein Schmerzensmann und ein Wahrheitsbeschwörer, der dem Schicksal geradewegs ins Auge blickt – und so auch das positive Ende, die grosse Schlussapotheose mit unglaublicher dramatischer Stringenz als weltbewegendes, alles überstrahlendes Ereignis, ja als kosmische Entladung und Seelenbefreiung inszeniert.

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Kategorie B: Neuproduktionen

  
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9
Royal Stockholm Philharmonic Orchestra
Leitung: Alan Gilbert
 

Aufnahme: 2. –7. Juni 2008, Stockholm Concert Hall
 
BIS-SACD-1710/Vertrieb: Klassik Center Kassel (Hybrid-SACD, 82’22)
 
Obwohl Mahlers rätselhafte Neunte erst vor kurzem von Jonathan Nott und den Bamberger Symphonikern in einer exzellenten Interpretation vorgelegt wurde (und dafür 2009 das „Toblacher Komponierhäuschen“ erhielt), muss man auch Alan Gilberts hypertransparenter Mehrkanalproduktion mit dem erstaunlich präzisen Stockholmer Philharmonikern höchstes Niveau bescheinigen: Der 42jährige neue Musikdirektor der New Yorker Philharmoniker hat das schwedische Orchester zuvor in acht Jahren weit nach oben geführt. Der in New York geborene Gilbert ist ein hochbegabter Dirigent, der es versteht, dieses unglaublich komplexe und vielschichtige Opus so frisch, klar strukturiert und zwingend logisch erklingen zu lassen, als hätte Mahler niemals ein Verständnisproblem gehabt: Es ist hier mit grosser Souveränität und unbefangener Intelligenz konturenreich und präzis durchgeformt, so dass auch alle Nebelschwaden des Depressiven, die lange Zeit über diesem vermeintlichen Werk des Abschieds lasteten, sich in Nichts auflösen. Gilberts aufbrausende Dramatik im Kopfsatz, seine Walzer-Sinnlichkeit im Scherzo, und seine klare Zuversicht im Adagio verleihen der Neunten eine neue innere Stärke: Hier öffnet Mahler kühn das Tor zum neuen Jahrhundert, und von Abschied keine Spur.

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Kategorie C: Sonderpreis   
 
Gustav Mahler: Lieder (Auswahl); „Adagietto“ aus der Symphonie Nr.5
(aus: Lieder eines Fahrenden Gesellen; Lieder nach Texten von Friedrich Rückert; Des Knaben Wunderhorn; Kindertotenlieder)
Mezzosopran, Elisabeth Kulman
Amarcord Wien (Sebastian Gürtler, Violine; Michael Williams, Violoncello; Gerhard Muthspiel, Kontrabass; Tommaso Huber, Akkordeon)

Aufnahme: Wien, 15. –18. April 2009
 
Material Records MRE 027-2 (CD, 56’31)
 
Anstatt die sicheren, akademischen Pfade Mahlerschen Originalklangs zu beschreiten, hat sich Wiens neuer Mezzo-Star Elisabeth Kulman auf ihrem Debütalbum auf den recht absonderlichen und eben typisch wienerischen Wirtshaus-Sound des Wiener Amarcord-Quartetts eingelassen, das mit einer recht bodenständigen Besetzung aus Geige, Cello, Kontrabass und Akkordeon Mahler von hohen Ross des Lied-Symphonikers herunterholt und in raffinierten, aber stets respektvoll-seriösen Eigenbearbeitungen den authentischen Bodensatz seiner Lieder freilegt: Doch bliebe dies alles nur eine hübsche Wienerische Travestie ohne die sirenenhafte Magie der unglaublich auratischen, perfekt geführten, unerschütterlich souveränen Stimme der 37jährigen Burgenländerin. In ihrem wunderbar fokussierten, runden und kultivierten Mezzo, der in der Höhe in den schönsten Sopran wechselt, vereint Elisabeth Kulman lyrisch strömendes Legato mit glasklarer, niemals manierierter Artikulation, so dass sie den semantisch-poetischen Kern der Texte tiefgründig und mit berückender Intensität ausleuchtet.
Auch die Auswahl der Lieder erscheint wohl bedacht und schlüssig : Sie reicht vom jugendlichen Übermut der „Gesellenlieder“ über die tristen Volks-Weisheiten der „Wunderhorn“-Lieder bis zur spätromantischen Weltverlorenheit der „Rückert“-Lieder, und nach dem finster schnarrenden, seiner morbiden Süsse gänzlich entkleideten „Adagietto“ wird es auch im „Wirtshaus“ sehr ernst und philosophisch, und dann spürt man plötzlich, dass Mahler doch viel „kakanischer“, viel „wienerischer“ empfunden haben muss, als wir bisher dachten.

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