Internationaler Schallplattenpreis

Schallplattenpreis 2011


Jury:
Lothar Brandt, Stuttgart, Rémy Franck, Luxemburg, Prof. Dr. Günter Schnitzler, Freiburg, Thomas Schulz, München
Vorsitz: Attila Csampai, München

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Kategorie A: Wiederveröffentlichungen:

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 3 d-moll
Leitung: Dmitri Mitropoulos
Mezzosopran, Lucretia West
Frauen des Kölner Rundfunkchors,
Kölner Domchor; Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester des WDR
 
Aufnahme/incisione: Funkhaus Köln, 31. Oktober 1960 (Live-Mitschnitt) Erstveröffentlichung
                                      
ICA Classics ICAC 5021/Vertrieb: Naxos     (2 CDs – mono)    TT : 94’33g
                                    
Bislang gab es von Dmitri Mitropoulos’ legendärem letzten Mahler-Konzert, das er zwei Tage vor seinem Tod in Köln dirigierte, nur mangelhafte Piratenpressungen. Jetzt hat der WDR die exzellenten Originalbänder zum erstenmal beim neu gegründeten englischen Sammlerlabel ICA Classics veröffentlicht, und das Ergebnis übertrifft alle Erwartungen.
 
Wer Mahlers monumentale „Schöpfungs-Symphonie“ von den einschlägigen Stereo-Referenzen im Ohr hat, also etwa von Haitink, Horenstein oder Solti, wird erstaunt sein, welche luftige Transparenz und unglaubliche Detailfülle die WDR-Techniker und natürlich auch Mitropoulos dem massiv instrumentierten Koloss schon 1960 in Mono abzutrotzen verstanden: Zahlreiche neueste Digital-Produktionen klingen dagegen richtig verwaschen und aufgebläht. Was einem aber von ersten Takt in Bann schlägt, und dann mehr als 90 Minuten lang den Atem raubt, ja in eine andere Welt entführt, ist Mitropoulos’ „fanatische Ausdrucksmacht“ , die Michael Schwalb ist seinem Booklet-Kommentar als entscheidendes Kriterium seiner Magie festmacht, und die ihn aus heutiger Sicht schon fast als Exoten aus einer anderen Zeit erscheinen läßt. Denn fast alle Mahler-Pultstars von heute wirken dagegen wie blasse Technokraten. Und weiter schreibt Schwalb: „Mitropoulos nimmt Mahler beim Wort, er verlässt sich ganz auf die Tragfähigkeit der großen architektonischen Bögen, weshalb der erzählerische Duktus seiner breiten Tempodisposition so fesselnd und bestechend ausgeglichen wirkt. Dabei lotet er in dem ihm eigenen Ausdrucksfanatismus alle Höllenabgründe und Seelenzerrissenheiten Mahlers aus.“ In der umfangreichen Diskographie der Dritten gibt es keine vergleichbare Interpretation von einer solchen dramatischen Stringenz, einer solchen Erzählkraft, einer solchen herzzerreissenden Intensität. Daß Mitropoulos während der Aufführung eine Herzattacke erlitt und danach nur noch zwei Tage zu leben hatte, macht dieses letzte Dokument seiner Kunst nur noch wertvoller und erschütternder.
 

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Kategorie B: Neuproduktionen

  
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 7
Residentie Orchestra The Hague
Leitung: Neeme Järvi
 
Aufnahme: Den Haag, 5. – 6. Juni 2009, Dr Anton Philipszaal
 
Chandos CHSA 5079/ Vertrieb: Codaex   (Hybrid-SACD)    TT: 70’10
 
Keine andere Symphonie Mahlers enthält so viel „Nächtliches“ und „Dunkel-Ungewisses“, und dennoch empfand Mahler seine Siebte als „ein Werk vorwiegend heiteren Charakters“ . Sein doppelbödiges Spiel mit den Bausteinen und Ingredienzien des „Romantischen“ und überhaupt der tiefe ironische Grundzug des Werks hat den Zugang des Publikums wie auch der meisten Dirigenten lange blockiert. Jetzt hat der 74jährige estnische Altmeister Neeme Järvi mit geradezu jugendlicher Nonchalance und dem auf Topniveau spielenden Residentie Orchester aus Den Haag die Flucht nach vorne angetreten und mit atemlosen Tempi den ganzen nächtlichen Spuk und alle romantische Beschaulichkeit weggewischt, als interessiere ihn, den abgeklärten Vollblutmusiker, nur noch Mahlers geläutert-heiteres Spiel mit den Farben und Formen der „romantischen Tradition“, als seien alles Pathos, alles Bedeutsame, alle Geheimniskrämerei nur Vorwände, um eine ganz moderne, locker fließende, zugleich rückwärts blickende und weit in die Zukunft weisende Symphonie zu schreiben, die seine eigene endgültige Befreiung vom „symphonischen Märtyrer“ vollzieht. Diese heitere Distanz zu aller dröhnenden Erdenschwere wirkt provozierend, da sich viele Rätsel wie von selbst auflösen: Der Kopfsatz wirkt formal viel stringenter, die beiden „Nachtmusiken“ doppelbödiger, entkitschter, und das zentrale Scherzo schärfer und eleganter als wir es bisher kannten, und auch das phantastisch durchgezeichnete, hypertransparente Klangbild der Mehrkanalaufnahme trägt das ihre dazu bei, um diese lange verkannte Symphonie als Meisterwerk kompositorischer Raffinesse und als dunkle Schwester der ähnlich doppelbödigen Vierten neu zu erleben.

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Kategorie C: Sonderpreis   
 
Franui – Mahlerlieder “...und ruh’ in einem stillen Gebiet.”
Tamoyoshi Ezaki (Exton Studio Yokohama)

(ausgewählte Lieder aus „Lieder eines fahrenden Gesellen“; „des Knaben Wunderhorn“; „nach Texten von Friedrich Rückert“; „Kindertotenlieder“;
arrangiert von Markus Kraler und Andreas Schett )
Bariton, Daniel Schmutzhard
; Musicbanda Franui

Aufnahme: Innsbruck, 19. –21. August 2010
 
Col Legno WWE 1 CD 20303/ Vertrieb: Harmonia mundi TT: 70’32

Der weltweite Mahler-Hype provoziert Gegenkonzepte: Jetzt hat „Franui“, eine wilde Ost-Tiroler “Musicbanda”, ihn quasi „heimgeholt“, und in unmittelbarer Nähe zu Mahlers Toblacher Feriendomizil eine neue alpenländische Perspektive auf sein Liedschaffen freigelegt - mit einer aberwitzigen Besetzung aus sieben Bläsern, Akkordeon, Zither, Harfe und Violine. Ihr „Liederabend mit Erinnerungen an die Ewigkeit samt unverhofften Eintreffen des Sängers“ läßt uns in seiner unverstellten Naivität, seiner rustikalen Raffinesse, seiner Zärtlichkeit, seinen Naturlauten, seiner tiefen Traurigkeit und seiner „blühenden“ Phantasie endlich wieder in die Seelen(ab)gründe dieser wunderbaren Musik blicken und fühlen. Zugleich erfahren wir, dass Mahlers Musik (wie auch seine Texte) grundsätzlich von „unten“, aus des Volkes Seele, seiner Trauer, seinen Weisen, schöpfen, und deshalb für alle Ethnien zugänglich ist, ob Klezmer, Zigeunermusik oder Alpenklang, und dass hier alle Zungenschläge ein Zuhause finden. Neun Lieder erklingen zunächst „ohne Worte“ und öffnen den Blick (und die Seele) für den musikalischen Subtext: ihre archaische Schönheit, ihre naiven Glücksverheissungen, ihre zutiefst menschlichen Profile werden scharf herausmodelliert, bevor Bariton Daniel Schmutzhard mit altmodischem Pathos die tieferen Schichten, ihre Tristesse, Einsamkeit und Todesnähe ausleuchtet. Franui gelingt hier das große Kunststück, Mahlers Musik von allem zivilisatorischen Müll und Konzertsaal-Mief zu befreien, und ihr ein Stück ihrer Naivität, ihrer erschütternden Aura, ihrer schmerzlichen Schönheit und Wahrheit zurückzugeben. Das ist eine völlig neue Art von Werktreue. 

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